Die Ludwigsburger sind sehr stolz auf „ihren“ Streichholz-Erfinder Jakob Friedrich Kammerer und man findet seine Spuren an vielen Orten der Stadt. Jedoch war er nicht der erste, zumindest nicht der einzige, Streichholzerfinder. Dennoch lohnt seine abwechslungsreiche Biografie einen genaueren Blick, denn es berührt Industrie-, Medizin-, Kultur- und die ganz große Geschichte.
Die erfolgreiche Siebmacher-Familie Kammerer
Jakob Friedrich Kammerer wurde am 24. Mai 1796 in Ehningen geboren. Er war das sechste von sieben Kindern seiner Eltern, dem Siebmacher Stephan Kammerer und seiner Frau Anna Margarete. Mit etwa 14 Jahren zog er mit seiner Familie nach Ludwigsburg an den Karlsplatz 3, wo sein Vater eine Weinwirtschaft betrieb. Fünf Jahre darauf verstarb der Familienvater und Jakob Friedrich, inzwischen selbst Siebmacher, übernahm gemeinsam mit seiner Mutter die Siebmacherei des Vaters.
Ab 1820 ging der junge Siebmacher seinen eigenen Weg. Er heiratete die Ludwigsburgerin Ludowika Frederike Rieger und pachtete 1823 die Gaststätte „Katharinenplessier“ (oder „Katharinenpläsier“) am Salonwald. Diese betrieb er aber wegen Differenzen mit seinem Vermieter nicht lange und zog mit seiner Frau kurze Zeit später in die Schorndorfer Straße 54, wo er wieder als Siebmacher arbeitete. Es folgte ein erstaunlicher Karrieresprung, denn 1824 besaß Kammerer bereits die einzige Hutfabrik der Stadt. Er erhielt für seine Hüte ein württembergisches Patent auf „die ausschließliche Fertigung von Sommerhüten und Kappen aus Fischbein, Weiden und Spanischrohr [Rattan]“ (Krätz 1977, S. 84) und annoncierte seine „garantiert wasserdichten Seidenhüte“. Offensichtlich nicht auf einen Geschäftszweig festgelegt, erweiterte er seine Fabrik auf Chemieerzeugnisse. Er verkaufte nun auch Gummistiefel und begann erste (nicht ungefährliche) Experimente mit Tunkhölzchen, die schon verbreitet, aber unfallanfällig waren.
Kammerer war seit 1830 verwitweter Vater von vier Kindern. Zu gewissem Wohlstand gekommen, kaufte er ein Haus in der Kirchstraße 21 und vergrößerte seine Produktion (In der heutigen Kirchstr. 19a hat das Restaurant Il Boccone eine kleine sehenswerte Ausstellung über Kammerer und seine Streichhölzer eingerichtet). 1831 heiratete Kammerer seine zweite Ehefrau Caroline Frederike Keck.



Der Weg zum Streichholz
Der Erfindung der Zündhölzer waren die Entdeckung des Phosphors (Brennstoff) durch den Hamburger Alchemisten Hennig Brand (!) 1669 und des Kaliumchlorats (Oxidationsmittel) durch den französischen Chemiker Claude-Louis Berthollet 1787. (An dieser Stelle ist schön zu sehen, wie sich die Alchemie durch die Entwicklung wissenschaftlicher Methodik und Abstreifen übernatürlicher Annahmen zur Chemie entwickelte, eine ebenfalls lohnende Geschichte!). Auf Basis dieser energiereichen Zündmasse (Brennstoff und Oxidationsmittel) brachte Jean Louis Chancel 1805 die briquet oxygéné oder Tunkhölzer auf den Markt. Wie man an der Zusammensetzung bereits vermuten kann, war die Anwendung dieser Hölzer nicht besonders sicher, da sie sich schnell selbst entzündeten. Das Aufbringen der Zündmasse in ein Asbest-Schwämmchen erhöhte die Sicherheit zwar, es kam beim Entzünden trotzdem noch häufig zu Verspritzen von Funken und Brennmasse. Die Tunkhölzer waren dennoch sehr verbreitet und wurden gleichzeitig von mehreren Erfindern weiterentwickelt. Die ersten „echten“ Streichhölzer, also mit Reibungszündung, erfand 1826 der englisch Apotheker John Walker, in der ersten Streichholzschachtel waren ab 1830 die Jones’s Lucifer Matches von Samuel Jones verpackt. Die Weiterentwicklung der Streichhölzer mit leicht- und selbstentzündlichem weißem Phosphor fand zwischen 1830 und 1834 parallel in mehreren Ländern der Welt statt, wobei an dieser Stelle niemandem Plagiat vorgeworfen werden kann. Im deutschsprachigen Raum wird Jakob Friedrich Kammerer als Erfinder des Phosphorstreichholzes angenommen, die er ab 1832 produzierte (mit indigoblauen Köpfen!). Er war damit zwar nicht der erste aber einer der ersten Hersteller am Markt.
Die mehrfache parallele Erfindung oder Entdeckung ist ein Phänomen, das häufig in der Wissenschaftsgeschichte vorkommt. Manchmal ist die Zeit einfach reif, weil die Voraussetzungen geschaffen wurden. Dies schlägt sich auch in der Kultur nieder. Das berühmteste Beispiel, aber nicht das einzige, ist das höchst-deprimierende Kunstmärchen „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Hans Christian Andersen aus dem Jahr 1845.


Der Phosphorkiefer: Die Berufskrankheit der Zündholzfabriken
Andersen verkannte das Drama um die Schwefelhölzer gründlich, denn sie stellten für die Fabrikangestellten nach langer Exposition (ausgesetzt-sein) eine ernsthafte Gefahr dar. Wenn Phosphordämpfe in den Körper eindringen, erweichen sie die Knochen und führen zu Frakturen. Der kürzeste Weg in den Knochen führte häufig durch schadhafte Zähne in den Kiefer, was zu starken Schmerzen und schlimmen Entzündungen führte. Auch Teilamputationen konnten die Betroffenen häufig nicht retten. Viele starben an diesen Phosphornekrosen und der sogenannten Phosphorkiefer wurde eine der ersten anerkannten Berufskrankheiten. Auch Fälle aus Kammerers Zündholzfabrik wurden vom Stuttgarter Medizinalkollegium untersucht.
Eine weitere Gefahr waren Vergiftungen durch Schlucken der hochgiftigen Streichholzköpfe. Meist waren das tragische Unfälle mit Kindern, aber eine österreichische Polizeistatistik sagt aus, dass 22,3 Prozent aller Selbstmorde in Wien zwischen 1854 und 1894 mit Zündköpfen begangen wurden.
Kammerers politische Flucht und Rückkehr nach Ludwigsburg
Kammerers politisches Engagement und seine Teilnahme am Hambacher Fest (1832) waren ebenfalls ein „Spiel mit dem Feuer“ (Entschuldigung für dieses platte Wortspiel. Es musste einfach sein) führten 1833 zur Inhaftierung auf der Festung Hohenasperg, aus der er nach vier Monaten gegen Kaution entlassen wurde.
Aufgrund mehrerer Brände in seiner Zündholzfabrik im Stadtzentrum wurde Kammerer 1836 von der Stadt Ludwigsburg vor die Wahl gestellt, entweder die Produktion einzustellen oder an den Stadtrand zu verlegen, woraufhin die Fabrik in die Heilbronner Str. 32 vor dem Asperger Tor umzog.
1838 holte die Justiz Kammerer wieder ein und verurteilte ihn zu zwei Jahren Festungshaft. Da er nicht vorhatte, auf den Hohenasperg zurückzukehren floh er nach Straßburg und später nach Riesbach bei Zürich, wo er ab 1841 eine weitere erfolgreiche Streichholzfabrik betrieb. Seine Ludwigsburger Geschäfte überließ er vorübergehend seiner Frau Caroline. Obwohl er 1842 die württembergische Staatsbürgerschaft wieder erhielt, holte er seine Ludwigsburger Familie in die Schweiz nach. Dort widmete er sich weiteren Geschäften und seinem politischen Engagement, zum Beispiel durch die Betreuung politischer Flüchtlinge aus „Deutschland“.
Kammerer kehrte 1847, nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in seine Heimat Ludwigsburg zurück. 1854 erkrankte er psychisch an „Schwermut“ oder „Verrücktheit“ (…oder beidem. Vorsicht! Diagnose aus dem 19. Jahrhundert!), weswegen er zunächst im Schloss Winnental (Winnenden) und 1855 in der Doktor Krauss’sche Privatirrenanstalt in Ludwigsburg untergebracht wurde. Dort starb er am 4. Dezember 1857. Sein Grab befindet sich auf dem Alten Friedhof in Ludwigsburg. Im Jahr darauf starb seine Tochter Sophie auf See an Gelbfieber, eine international bekannte Opernsängerin auf Tournee. Auch seine weitere Tochter Emilie Frederike wurde Sängerin und heiratete Friedrich Wilhelm Wedekind. Die Ehe war zwar nicht glücklich, ihr entsprangen aber sechs Kinder, darunter der Schriftsteller, Dramatiker und Schauspieler Benjamin Franklin Wedekind (1864–1918), die Sopranistin Frieda Marianne Erica Wedekind (1868–1944) und der Schriftsteller Donald Lenzelin Wedekind (1871–1908).
Literatur und Quellen:
(Internetquellen auf dem Stand 13.02.2022)
- Albert Sting: Geschichte der Stadt Ludwigsburg – von 1816 bis zum Kriegsende 1945. Band II. Ungeheuer+Ulmer. Ludwigsburg 2004. S. 458f.
- Otto Krätz: Kammerer, Jakob Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 11, Duncker & Humblot, Berlin 1977, S. 84f. Online unter: https://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00016328/image_98
- Peter Müller: Von Mädchen mit Schwefelhölzern. Was die Akten des Medizinalkollegiums über die Herstellung von Zündhölzern im 19. Jahrhundert berichten. In: Archivnachrichten 46 (2013), S. 12 f. Online unter: https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/54974/Archivnachrichten_46.pdf
- Schautafeln der Kammerer-Ausstellung und Streichholzschachtelsammlung im Il Boccone in Ludwigsburg. Sie ist während der Restaurant-Öffnungszeiten zu besichtigen: https://www.ilboccone-lb.de/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Friedrich_Kammerer
- https://de.wikipedia.org/wiki/Streichholz
- https://www.region-stuttgart.de/aktuelles/erforschen-entwickeln/wer-hats-erfunden/artikel/das-streichholz.html
- https://de.wikipedia.org/wiki/Emilie_Wedekind-Kammerer
- https://de.wikipedia.org/wiki/Das_kleine_M%C3%A4dchen_mit_den_Schwefelh%C3%B6lzern
Der „Streichholz“- Beitrag über Jakob Friedrich Kammerer zeigt uns wie flexibel und vielseitig die Menschen schon vor 200 Jahren waren/sein konnten. Das heute so aktuelle Thema vom lebenslangen Lernen und dem schnellen Wechsel aus einer Domäne in die andere gab es schon zu Zeiten, in denen ich es nicht vermutet hätte.
Das ist der spannendste Beitrag hier! Weiter so!