
Kleine Bühne für große Geschichte: Industriegeschichte in Schorndorf
Als ersten Eintrag in diesem Blog und aus weil im Herbst 2020 die Abrissarbeiten des ehemaligen Firmengeländes stattfinden, habe ich ein selbst schon fast historisches Thema gewählt. Meine Bachelorarbeit im Wintersemester 2009/10 handelte von der Lederfabrik Christ. Breuninger in Schorndorf im Rems-Murr-Kreis, nicht weit von Stuttgart. Das Gelände sollte damals verkauft und neu bebaut werden. Zehn Jahre später laufen endlich die Bauarbeiten in der Nähe des Schorndofer Bahnhofs.
Ich hatte durch Zufall das Thema meiner Arbeit angeboten bekommen. Da ich keine Ahnung hatte, was mich erwartete, schloss ich mich einer Ortsbesichtigung der Seniorchefs Dieter und Veit Breuninger durch die ehemalige Lederfabrik an und entdeckte meine Liebe zur Industriearchäologe.
Die Geschichte der Lederherstellung
Die Geschichte der Gerberei war noch länger als ich ohnehin schon erwartet hatte, so fiel mir ein Buch von Giuseppe Bravo in die Hände mit dem schönen Titel: „100.000 Jahre Leder“. Das schien mir zwar leicht übertrieben, trotzdem muss ich mich in diesem Rahmen stark einschränken. Überspringen wir also den Fell-Lendenschurz der frühen Menschen und die immer wieder angesagten „Römersandalen“ und sogar das Pergament. Werfen wir also einen Blick auf die mittelalterlichen Gerberviertel, von denen natürlich auch Schorndorf eines besaß. Die Gerber des Mittelalters waren in Zünften organisiert und entwickelten drei traditionelle Arten des Gerbens:
- Die Weißgerber produzierten durch mineralische Salzgerbung mit Alaun die edlen und dünneren Bekleidungsleder.
- Die Sämisch- oder Gelbgerber erhielten durch Fettgerbung mit Fett und Tran besonders wasserdichtes Leder, das tiereigene Fett wird in die Haut eingeknetet.
- Die Rot- oder Lohgerber stellten durch vegetabilische Gerbung der großen und schweren Häute mit Loh, also Eichen- und Fichtenrinde, Leder für Sättel und Zaumzeug sowie Sohl- und Schuhleder her. Und ebenso gerbte auch die Lederfabrik Breuninger.
Im Lauf der Zeit kamen Entdeckungen in der Chemie und neue Techniken dazu und zu Breuningers Zeiten war aus dem Erfahrungshandwerk bereits eine Wissenschaft geworden. Durch Maschinen und Rollfässer war plötzlich eine industrielle Gerbung möglich. Die richtige Idee zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Die Geschichte der Firma Christ. Breuninger in Schorndorf
Das Firmenarchiv ist leider durch einen Brand zerstört worden, so muss man sich mit einer Firmeneigenen Chronik begnügen und vielen Geschichten, die in Schorndorf die Runde machten. 1843 gründet Christian Breuninger, Obermeister der Rotgerberzunft und Gemeinderatsmitglied, die Lederfabrik in Schorndorf. Standort und Zeitpunkt waren günstig: Durch den Bergbau in Wasseralfingen bei Aalen entstand durch das Remstal die Eisenbahnlinie Wasseralfingen-Cannstatt. Die Gleise führten direkt am Fabrikgelände vorbei und der Schorndorfer Bahnhof entstand in Rufweite.
Der Erste Weltkrieg zeichnet sich in der Rekonstruktion der Firmengeschichte durch eine schlechte Quellenlage aus. Die Geschäftsbücher 1913-1917 legen zumindest nahe, dass es wirtschaftlich keine Hungerjahre waren. Die Lederabnahme durch das Militä und die mangelnde internationale Konkurrenz waren sogar positiv für die Firma. Schlecht dagegen war, dass Arbeiter eingezogen wurden und der Markt stark reguliert war.
In den 1920er-Jahren ging es der Firma ausgesprochen gut. Man produzierte Luxusprodukte aus exquisitem Reptilienleder und experimentierte mit Känguru-Haut und weiteren exotischen Rohstoffen. Anbauten wurden aufgebaut, Maschinen gekauft.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, musste die Firma zwar keine größeren Schäden beklagen, es ist jedoch die Rede von Einbußen durch eine nicht näher bezeichnete Rücksichtslosigkeit der Partei (vermutlich die NSDAP). Man sei knapp der Schließung entgangen. Wie viele Firmen hat auch Breuninger nicht viel von seiner Zeit des Nationalsozialismus publik gemacht und wie viele Menschen ist auch die Familie Breuninger nicht besonders hervorgetreten: nicht für oder gegen das Regime. Allerdings haben ich im Bauordnungsamt Belege dafür gefunden, dass sie Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter beschäftigten und in Baracken auf dem eigenen Gelände unterbrachten. In und um Schorndorf war das aber ebenfalls nichts Außergewöhnliches und Schorndorfer Firmen wurden von der NSDAP mehrfach gerügt wegen „zu lascher“ Behandlung der Zwangsarbeiter. Es ist schwierig daraus Schlüsse über die Rolle in der Nazidiktatur zu ziehen. In Schorndorf kursieren noch lange Gerüchte, die jedoch nie belegt werden konnten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten: die Kundschaft in der „Sowjetischen Besatzungszone“ fallen weg, die moderne Bundeswehr benötigt kein „Kriegsleder“ mehr und auch die Landwirtschaft braucht nicht mehr so viel Leder wie früher (Traktoren brauchen keine Zuggeschirre). Man erfand sich neu durch gute Qualität und den Umstieg auf Luxusartikel, wie teure Kamerataschen, statt der Gerberei von Rohhäuten. Der Aufschwung ist zu erkennen an einem regelrechten Bauboom auf dem Firmengelände.
Doch mit zunehmender internationaler Konkurrenz und strenger Umweltauflagen (Produktionsstandorte sind bekanntermaßen dorthin abgewandert, wo die Vorschriften weniger streng sind.) konnte die Fabrik nicht mehr bestehen und verkaufte erst einen Teil des Geländes an die direkten Nachbarn Lidl und Media-Markt, dann folgt 2008 die Insolvenz.

Arbeit der Rotgerber
Bei meinem Besuch auf dem Firmengelände 2009 standen die Maschinen zur Rohhautverarbeitung noch da, als sollte jeden Moment der Betrieb wieder aufgenommen werden, wie zwischen 1843 und 1998.
Die Arbeitsprozesse einer Rotgerberei lassen sich in drei Schritte zusammenfassen:
- Die Wasserwerkstatt, also Waschen, Enthaaren, Entfleischen, Sortieren, Spalten und Beizen. Im Grunde passieren in der Wasserwerkstatt die Arbeitsschritte wegen denen niemand gerne in Nachbarschaft einer Gerberei wohnt. Die Haut droht noch zu verwesen, die Chemikalien sind ätzend und die Maschinen scharf und gefährlich.
- Die Gerberei. Hier wird endlich gegerbt, gewässert, gewalzt, gefalzt, und gefettet. Kurz: Hier wird die Haut haltbar und geschmeidig gemacht. Wie bereits erwähnt war Breuninger eine Rotgerberei, gerbte also mit pflanzlichen Stoffen, und das bis zum Schluss obwohl sich inzwischen in Deutschland die schnellere aber giftige Chromgerberei durchgesetzt hatte.
- Die Zurichtung. Noch bis 2009 wurde hier Leder durch Stoßen, Sortieren, maschinelles oder manuelles Färben und weitere Schritte veredelt und schließlich in die ganze Welt verschickt. Breuninger spezialisierte sich besonders auf dem Gebiet der Veredelung, bisweilen mit seltsamen kreativen Auswüchsen in den goldenen1920ern. Damals kamen Häute von Eidechsen, Schlangen und Krokodilen, vom Vogel Strauß, von Ochsenfröschen und Haifischen aus der ganzen Welt. Schaf- und Kuhmägen wurden „gegerbt“, auf Leinwand aufgezogen, gefärbt und mit anderen Farbtönen schräg überspritzt.

So wird aus Industrie Industriegeschichte
Schließen möchte ich mit einem Zitat des polnischen Historikers Krzysztof Pomian, das illustriert, welche unterschiedlichen Phasen eine Fabrik durchläuft, die zunächst Teil eines nützlichen Kreislaufs ist, deren Maschinen irgendwann unwirtschaftlich sind und die darum aufgegeben wird, Zitat:
„[…] nachdem alles Nützliche und Verkäufliche daraus entfernt worden“ ist. Unsere Fabrik „ist ein Überrest, ein Relikt der Vergangenheit. Man stellt in ihr keine zum Gebrauch bestimmten Gegenstände mehr her. Man zeigt sie der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit sieht, traurig und entrüstet, in den Mauern und Maschinen ein Denkmal das Proletariats oder der Industriekapitäne, des Klassenkampfes oder der Sorge des Unternehmers um seine Arbeitnehmer, ein Denkmal der Ausbeutung des Arbeiters durch die Bourgeoisie und der Akkumulation des Kapitals oder, im Gegenteil, ein Bild des Unternehmergeistes, des Fortschritts der Technik und der Eroberung der Märkte. Aus unserer Fabrik ist ein Gegenstand der Diskussion und der Gesten geworden, Ausdruck für verschiedene Haltungen gegenüber der Vergangenheit, die sie versinnbildlicht.“
(Pomian, Krzysztof: „Museum und kulturelles Erbe“ in: Korff, Gottfried; Roth, Martin (Hg.) „Das historische Museum – Labor – Schaubühne – Identitätsfabrik“, Frankfur a.M., 1990, S.42 )

Weitere Informationen:
Ein ausführlicher Artikel ist 2011 in den Schorndofer Heimatblättern erschienen, inzwischen selbst „historisch“: Wagner, Bettina: Die Geschichte der Lederfabrik Christ. Breuninger in Schorndorf, In: Heimatblätter. Jahrbuch für Schorndorf und Umgebung, Band 25, Schorndorf 2011.
Das Gebäude stand vor seinem Abbruch 2019 lange leer, was Einbrecher auf den Plan rief.
Die Stadt Schorndorf lässt das Gelände nun neu bebauen und hat dazu eine kleine Informationssammlung zusammengestellt.
Die Abbrucharbeiten wurde von Benjamin Beytekin Photography dokumentiert und auf Youtube veröffentlicht.